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Fachartikel 2

Ziemlich wahre Geschichten“ aus Brasilien

Eymard Toledo

Wenn wir Menschen in der Fußgängerzone einer deutschen Stadt fragen würden „was weißt du über Brasilien?“ würden die meisten vermutlich erst einmal in ihrem Gedächtnis kramen müssen und dann antworten: “Karneval, Fußball“ und vielleicht sogar „brasilianische Musik, wie Bossanova”.

Aber die meisten Menschen in Deutschland haben nicht so viel Ahnung, wie es in meinem Land aussieht und dadurch wissen auch ihre Kinder nicht viel über Brasilien. Es ist für mich eine große Ehre dem Publikum hier in Europa, das Leben in Brasilien aus meiner Perspektive zu zeigen. Das ist natürlich eine andere Perspektive als die, aus der gewöhnlich die Medien berichten. Nicht besser und nicht schlechter, nur anders.

Deshalb erzähle ich brasilianische Alltagsgeschichten mit sozialen Themen. Ich bin in der brasilianischen Gesellschaft und mit ihren sozialen Problemen aufgewachsen, sie prägten meinen Alltag und jetzt kann ich sie mit etwas Abstand und kritischem Blick betrachten. Aber meine Geschichten sind nicht nur persönlich, sondern sprechen über Entwicklungen, die es auch in anderen Ländern des Globalen Südens gibt. Sie könnten genauso auch in China, Indien, Peru, Bolivien, Vietnam… passiert sein. In der globalisierten Welt, in der wir leben, sind viele unserer Probleme gleich, wie z.B.: Industrialisierung auf Kosten von Mensch und Natur, Umweltzerstörung, Konsumwahn, Artensterben, Rassismus, Diskriminierung, usw. In sehr verschiedenen Regionen der Welt leiden die Menschen unter diesen ähnlichen Problemen.

Als ich angefangen habe, meine Kinderbücher in der Schweiz und in Deutschland in Schulen und Bibliotheken vorzulesen und an Literaturveranstaltungen teilzunehmen, habe ich sehr selten andere Kinderbuchautor*innen aus dem Globalen Süden getroffen. Das war vor 15 Jahren. Damals wurden ca. 95% der Kinderbücher von Europäer*innen geschrieben und illustriert. Ich habe keine Statistiken dazu, aber das war mein Gefühl. Aber ich glaube auch, dass sich das in den letzten 15 Jahren verändert hat. Heutzutage findet man in den Regalen europäischer Buchhandlungen viel mehr Bücher von Autor*innen aus Ländern des Globalen Südens. Wenn Autor*innen über ihr eigenes Land oder die Gemeinschaft, zu der sie sich zugehörig fühlen, schreiben und die Chance bekommen, ihre Bücher in Europa zu veröffentlichen, ist das ein großer Fortschritt hin zu authentischen und vielfältigen Geschichten über Länder des Globalen Südens. Es ist aber schwierig für ausländische Autor*innen Fuß zu fassen auf dem deutschen Buchmarkt. Man muss sich in den europäischen Markt einarbeiten und die Verlage überzeugen, dass man schreiben kann. Bei mir hat es vier Jahre gedauert bis ich einen Verlag gefunden habe.

Kinderbücher haben die Kraft alle Kulturen zu erreichen und dahin zu kommen, wo es kein Internet gibt.

Ich finde Kinderbücher tatsächlich das ideale Transportmittel. Kinderbücher haben die Kraft alle Kulturen zu erreichen und dahin zu kommen, wo es kein Internet gibt. Wenn ich überlege, wo überall mein erstes Buch „Bené”, das vor 13 Jahren erschienen ist, schon überall angeschaut worden ist, bin ich überrascht und begeistert. Sogar ins Amazonasgebiet hat eine Lehrerin dieses Buch vor zehn Jahren mitgebracht. Außerdem verändert sich gerade etwas in der europäischen Literaturszene: Der europäische Markt hat seit kurzem großes Interesse an Autor*innen und Künstler*innen aus dem Globalen Süden. Das ist ein riesiger Sprung für mehr Perspektivenvielfalt.

Ich liebe es, Geschichten zu erschaffen, die Kindern und Heranwachsenden Parallelen zwischen ihrem Leben und dem von Menschen aus anderen Kulturen und aus scheinbar „exotischen und fremden” Welten zeigen.

Die daraus entstehende Identifikation der Kinder hier mit Kindern in Länder des Globalen Südens klappt am besten, wenn sie Bücher lesen, die die Lebensrealitäten in diesen Ländern beschreiben. Meine Bücher sind sehr realitätsnah. Ich schreibe „ziemliche wahre Geschichten“, wie es im Titel einer meiner Bücher steht.

Die Kinder sind offen für das Leben von anderen Kindern, die ganz woanders leben und deren Leben anders, aber auch ähnlich ist.

Die Rückmeldungen zu meinen Büchern sind sehr unterschiedlich, aber meistens sind die Kinder neugierig auf die Geschichten und offen. Es sind die Erwachsenen, die feste Bilder im Kopf haben, Vergleiche herstellen und bewerten. Die Kinder sind offen für das Leben von anderen Kindern, die ganz woanders leben und deren Leben anders, aber auch ähnlich ist. Sie vergleichen nicht, sie nehmen die Geschichte einfach an und lassen sie stehen wie sie sind.

Was ich bei meinen Lesungen oder besser gesagt nach meinen Lesungen häufig von Lehrer*innen oder Eltern höre, ist, dass sie zu den Kindern sagen: „Schaut mal, wie gut ihr es hier in Deutschland habt.“ Eigentlich ist das eine Botschaft, die ich vermeiden möchte, weil ich den Kindern hier nicht vermitteln will, dass sie „alles haben und richtig leben“ und dadurch die besseren Voraussetzungen haben, um glücklich zu sein. Das schafft ihnen nur ein schlechtes Gewissen, das auch die Erwachsenen hier gegenüber „den Armen“ im Globalen Süden haben. Und andersrum: Weniger Besitz, bedeutet nicht, dass die Menschen des Globalen Südens weniger glücklich sind. Im Gegenteil, brasilianische Kinder, unabhängige von ihrem sozialen Milieu, erlebe ich als fröhlicher und kontaktfreudiger als Kinder hier.

Selten höre ich auch Kritik der Eltern. In meinen Büchern passiere zu wenig und „die Kinder möchten mehr Action“. Ich kann diese Kritik gut hören und verstehe, woher sie kommt. Die Tik-Tok- und Instagram-Generation mag Action und alles muss kurz sein und schnell auf den Punkt kommen. Aber meine Absicht ist, die Kinder mit meinen Geschichten zu entschleunigen, z. B. durch unaufgeregte Geschichten aus dem normalen Leben, die so auch im Leben der jungen Leser*innen oder Zuhörer*innen passieren könnten.

Meine Illustrationstechnik begeistert alle. Zusammen mit den Alltagsgeschichten möchte ich zum Nachdenken anregen und Raum für eigene Gedanken lassen.

Schließen möchte ich mit einem Satz von Herrn Dr. Fassbinder, Oberbürgermeister die Stadt Greifswald, der es für mich auf den Punkt bringt: „Die Perspektive des Globalen Südens schärft unseren Blick auf die Welt.“ Ich habe mich geehrt gefühlt als ich das las.


Ich bin Eymard Toledo, eine brasilianische Illustratorin und Autorin und lebe mit meiner Familie in Mainz. Ich bin mit 25 Jahren nach Berlin zum Studieren gekommen und nach meinem Abschluss in Produktdesign verliebte ich mich und blieb. Nachdem ich Mutter zweier toller Jungs geworden bin, habe ich angefangen, für sie Geschichten zu schreiben.

Meine Geschichten sind sowohl für Kinder als auch für Erwachsene und wurden weltweit veröffentlicht, ausgestellt und ausgezeichnet. Jetzt sind meine Bücher in 7 Ländern zu finden. Meine Collage-Illustrationen sind farbenfroh wie mein Land Brasilien. Ich arbeite immer analog. Neben der Herstellung meiner Collagen arbeite ich mit Aquarellen und anderen Arten von Kunst und Design, die mich inspirieren. Ich veröffentliche im Verlag Baobab Books und bin seit 2020 auf Instagram.