Kann aus Kindergeschichten eine globale Welt für die Zukunft entstehen?
Francisca Gallegos
Wie kann die Perspektive des Globalen Südens [1] mit Hilfe von Kinderbüchern in unsere Erziehung integriert werden? Können Kinderbücher ein Weg sein, Kindern in Deutschland das Leben von Kindern im Süden näher zu bringen?
Während meiner gesamten Kindheit hörte ich die Märchen der Gebrüder Grimm wie Rotkäppchen oder Hänsel und Gretel und viele andere. So auch Hans Christian Andersens Geschichte vom “hässlichen Entlein” oder Oscar Wildes berühmtes Werk “der selbstsüchtige Riese”. Ich kannte sie auswendig, ohne zu wissen, wer sie geschrieben hat, bis ich erwachsen wurde und sie dann meinen Kindern erzählte. Auf diese Weise begleiteten sie mich mein ganzes Leben lang bis heute. Denn die Bilder, die sich in meiner Seele gebildet haben, tauchen in verschiedenen Lebenssituationen immer wieder auf.
Manchmal fühle ich mich wie der kleine Däumling oder Rotkäppchen, die anderen helfen.
Sie vermitteln mir die Gewissheit, dass es in schwierigen Situationen immer einen Ausweg gibt. Sie geben mir auch die Fähigkeit durch Geschichten zwischen Egoismus und Solidarität unterscheiden zu lernen. Ihre Figuren sind Identifikationsmöglichkeiten, denn manchmal fühle ich mich so schlau wie der gestiefelte Kater, aber manchmal auch wie eines der Kinder des selbstsüchtigen Riesen, – ähnlich wie damals, als ich nach Europa kam; oder, wie Hänsel und Gretel, die – im Wald ausgesetzt, verloren, in ihrer Versuchung gefangen – die Kraft finden, sich selbst zu retten. Manchmal fühle ich mich wie der kleine Däumling oder Rotkäppchen, die anderen helfen. Sie alle sprechen zu mir vom Leben selbst und sind daher eine Unterstützung für die Reise der Seele auf dieser Erde. Aber ich bekam als Kind auch Geschichten aus meiner eigenen Kultur, die sehr vom ländlichen Süden in Lateinamerika geprägt war, zu hören. Diese bewahre ich immer noch in meinem Herzen und kann sie dadurch jedes Mal, wenn mir ein Bild aus diesen Geschichten in den Kopf kommt, genießen.
Mit all dem möchte ich sagen, dass es Geschichten gibt, die weder Zeit noch Ort kennen, die aus mündlicher Überlieferung stammen und archetypische oder universelle Wahrheiten darstellen. In diesem Sinne würde ich sagen: Ja, Geschichten aus dem Globalen Süden sind für Kinder im Globalen Norden sinnvoll und umgekehrt.
“Wenn der Fluss rieselt, trägt er Steine mit sich”
Südamerikanische Redewendung
Im Globalen Süden gibt es ein unendliches Universum aus verschiedenen Welten, Traditionen, Geschichten und weisheitlichen Sprichwörtern die den Alltag aller Menschen bestimmen. Unter den südamerikanischen Redewendungen, z.B. findet man welche wie: “Wasser, das du nicht trinkst, lass es fließen” (Agua que no has de beber, déjala correr) oder “Wenn der Fluss rieselt, trägt er Steine mit sich” (Cuando el rio suena, es porque piedras trae). Des Weiteren gibt es in meinem Teil des Globalen Süden auch zahlreiche Handspiele, Reigen und uralte Melodien, die in den Schulpausen gemeinsam gesungen und getanzt werden.
Aber der Globale Süden ist sehr vielfältig. Es gibt in ihm zum Beispiel auch einen Globalen Norden [2], weil es dort extremen Reichtum gibt oder sehr westliche, uns hier in Deutschland sehr bekannte Lebensbedingungen herrschen. Dort sehen wir einen starken Identitätsverlust. Im Allgemeinen handelt es sich dabei um Menschen mit europäischer Abstammung die in Städten leben.
Es gibt dort aber auch einen Globalen Süden, in dem aufgrund der extremen Armut, der Marginalität und des Verlustes der Würde kein Platz für unseren Begriff des „Globalen Südens“ selbst besteht.
Es gibt einen Globalen Süden, in dem die Kinder auf der Straße spielen, traditionelle Lieder singen und abends am Feuer sitzen und den Geschichten mehrerer Generationen lauschen; einen Süden, in dem die Großmütter die Kinder aufziehen, weil ihre Eltern arbeiten und so die Geschichten und Erzählungen weitergeben, die das kulturelle Erbe der Menschen lebendig halten. Und es gibt auch einen Süden, in dem die Kinder mehr als vier Stunden am Tag vor dem Fernseher verbringen und sicher nicht wissen, was „Geschichtenerzählen“ in der Vergangenheit bedeutet hat.
Wenn ich also nach der Perspektive des Globalen Südens auf (Kinder-)Geschichten gefragt werde, frage ich mich, welche der vielen genannten ich annehmen sollte, um diese Frage beantworten zu können. So komme ich auch auf andere, schönere Perspektiven, die manche als “romantisch” bezeichnen würden, aber in meinen Augen als die authentischsten gelten, weil sie Teil des ältesten Reichtums der Menschheit sind und bis in die heutige Zeit aufbewahrt wurden.
Es lehrt uns, dass wir Menschen, Kinder der Erde und des Wassers sind und diese behüten und pflegen müssen.
Eines davon hat mit den Visionen und Lebensweisen der indigenen Völker und ihrer Erben im globalen Süden zu tun. Sie enthält viele Erzählungen, Märchen und Mythen, die Bestandteil dieser universellen Weisheit sind. Die Perspektive des Buen Vivir (Gutes Leben) ist ein gutes Beispiel dafür. Es lehrt uns, dass wir Menschen, Kinder der Erde und des Wassers sind und diese behüten und pflegen müssen.
In den Erzählungen aus dem Globalen Süden finden sich viele Bezüge zur Verbundenheit der indigenen Bevölkerung mit ihrem Territorium, wie zum Beispiel beim indigenen Volk der Mapuche in Südamerika. Dieses Volk, zum Beispiel, sind im Allgemeinen “Menschen des Landes”. Dies bedeutet der Wortlaut „Mapuche“. Aber je nach Gebiet, das sie bewohnen, unterscheiden sie sich voneinander. Zum Beispiel, sind die “pehuenche” die Bewohner der Gebirge. Diejenigen, die die “pehuén” oder Pinien auf den Bergen sammeln. Oder die Lafkenche. Sie sind das Volk des Meeres. Und so gibt es viele Untergruppen, die sich ihre Namen nach den Gebieten geben, die sie bewohnen. Denn das Land mit seinen Ressourcen und Besonderheiten bildet für sie die Lebensgrundlage. Es ernährt und schützt die Menschen und ist deshalb ein wichtiger Teil ihrer Identität. Aus diesem Grund erwerben die Menschen die Fähigkeit mit ihrem Territorium zu kommunizieren. Sie kennen seine Weisheit und ihre Magie. Das Gebiet, das Territorium ist das Haus, das sie in jeder Hinsicht ernährt und sie sind seine “Hüter“.
In diesem Sinne ist das Land und alles, was es innehat, “heilig”; ein Konzept, das für diejenigen wie mich, die in der Stadt leben und für ihre Ernährung auf den Supermarkt angewiesen sind, sehr schwer zu verstehen ist, da wir keine existenzielle Verbindung mit dem Territorium haben. Wir sind dort, wo wir sind, wegen der Arbeit, wegen des Geldes usw. Im Falle der Mapuche, wie in vielen anderen Gegenden des globalen Südens auch, handelt es sich um Gebiete, die im Kolonisierungs- und Eroberungsprozess im Laufe der letzten 500 Jahre verkauft und privatisiert wurden. In allen diesen Gegenden gibt es Konflikte zwischen der lokalen Bevölkerung und transnationalen Unternehmen, die Gold, Kohle, Wasser, Wälder usw. ausbeuten. Das führt zu Wasserknappheit oder -mangel für die lokale Bevölkerung durch Avocado-Plantagen, Umweltverschmutzung und -zerstörung durch Goldabbau oder Abholzung von Wäldern.
Das alles sind Situationen, die Kinder in Deutschland nicht erleben müssen. Vor diesem Hintergrund unterscheiden sich die Lebenswelten von Kindern in Deutschland und in Lateinamerika sehr deutlich.
Der Globale Süden ist voll von dramatischen Geschichten über Plünderung und Zerstörung. Aber was kann oder sollte ein Kind mit solchen Geschichten anfangen? Ist es richtig, Kinder, die für diese Probleme nicht verantwortlich sind, mit dem Drama unserer Welt zu konfrontieren? Ist es angemessen, den Kindern Wege, Beziehungen und Kommunikationsmöglichkeiten mit Mutter Erde aufzuzeigen und zu lehren?
Die Botschaften
In diesem Sinne denke ich, dass in Geschichten aus dem Globalen Süden einige wichtige Botschaften für Kinder auf der ganzen Welt transportiert werden:
1. Das Verständnis dafür, dass die Erde ein Lebewesen, eine großzügige Mutter und dass ihre Sprache die „Vermehrung“ [3] ist und deshalb uns das Teilen lehrt, und auch großzügig zu sein und dass wir nur das nehmen sollten, was wir brauchen.
2. Das Verständnis dafür, dass die Erde und die Sonne uns so sehr lieben, dass sie uns alles geben, was wir zum Leben brauchen. Dafür sollten wir dankbar sein. Das Wissen, dass die Erde heilig ist, nicht verkauft, nicht zerstört und nicht verschmutzt werden darf.
3. Das Wissen, dass das Wasser, die Bäume, die Steine und die Tiere Brüder und Schwestern und wir alle Kinder der Erde sind und dass wir nicht wichtiger sind, als die anderen Lebewesen.
4. Das Territorium zu verstehen und zu begreifen, dass wir selbst das Territorium sind, das wir bewohnen. Dass die Erde uns ernährt, dass wir auf sie hören und sie verstehen lernen und ihr gegenüber unsere Dankbarkeit erweisen sollten.
Diese Botschaften in Kindergeschichten zu hören, ist für jedes Kind wichtig und ich bin sicher, dass viele deutsche Kinder den Bezug zur Natur um sie herum, den Wäldern, Wiesen und Seen, sehr leicht herstellen und ihre Bedeutung verstehen werden.
Wie schön wäre es, wenn es in der “Welt der Zukunft” keinen Norden und keinen Süden mehr gäbe, wie es in Erzählungen aus der Andenregion heißt. Die dortigen indigenen Völker sagen: wenn der Adler und der Kondor, als Repräsentanten der Völker des Nordens und des Südens, sich treffen, um in völliger Harmonie gemeinsam zu fliegen, dann ist die Zeit für eine neue Menschheit angebrochen. Diese nennen sie „Pachakuti“ und diese gilt es auch nun vorzubereiten. Und Geschichten und Erzählungen sind der beste Weg, dies zu tun!
Francisca Gallegos Urquiza, eine chilenische Geschichts- und Geographielehrerin, ist 47 Jahre alt und engagiert sich seit mehr als 27 Jahren für den Umweltschutz, den Schutz der Gebiete indigener Völker, den Kampf für das Recht auf Wasser usw. Chile ist ein Land, in dem das neoliberale System sehr zerstörerisch gewirkt hat und daher ein großes Engagement für die Umwelt und die Gesellschaft erfordert. Sie lebt seit 8 Jahren in Deutschland, wo sie als BTE im EPIZ-Programm arbeitet.
[1] Die früheren genannten „Entwicklungsländer“ oder Länder der „Dritten Welt“ wurden durch den neutralen Begriff „Globaler Süden“ ersetzt.
[2] Der „Globale Norden“ ist ein Begriff der den des „Globalen Süden“ entgegensteht und bezeichnet die Position in der Welt, die von Vorteilen bedacht ist, zum Beispiel weil Menschen als weiße oder durch ihre ökonomischen Möglichkeiten privilegiert sind.
[3] In den Erzählungen der Muiscas aus Kolumbien hört man: Als ein Kind mit zwei Samen der Mutter Erde fragte: „Wieviel ist eins plus eins?“ diese nicht antwortete. Nach einiger Zeit kam das Kind zum selben Ort zurück und fand eine ganze Maispflanze vor sich. Dann verstand er das die Erde nichts von Addieren versteht. Sie kann nur Multiplizieren.